Mittwoch, 25. Juni 2014

Notwendige Perspektive

Ich kann solche Dinge realistisch sehen und bin insofern ein Mann der Wahrheit, als mir lange "Einsamkeit" den realistischen Blick beschert hat. Ich brauche auf niemanden Rücksicht zu nehmen, meine Sehweisen und Wertungen an niemanden anzupassen, in einem Maße, das an die Unfähigkeit zu lügen grenzt: Also auch: "Wohl dem, der keine Heimat hat!" Zudem nahm mir die christliche Gewissenserforschung - und das war ihr einziges gutes Werk - die Disposition zum Selbstbetrug, in den sich die meisten Menschen verstricken, so daß ich immer in sehr hohem Maße frei gewesen bin: ich konnte sogar des hartnäckigsten Wahns, des Wahns der Willensfreiheit, entraten und erkannte ihn bald als eine Hauptwurzel allen Übels. Wieviel Unfreiheit hat nicht Schiller noch durch die philosophische Mißgeburt der "Geistesfreiheit" konservieren helfen. Jede bildgebende Hirnforschung kommt heute immer klarer zu der Erkenntnis, daß die "Entscheidungen" des Menschen schon lange, bevor eine Angelegenheit überhaupt in sein Bewußtsein gelangt, gefallen sind.
Wenn jedes Lebewesen in seiner eigenen Welt lebt und alle Auseinandersetzungen durch die perspektivischen Eigenheiten der Kontrahenten bedingt sind, so darf man auch den Streit und den Haß der Menschen nur dann moralisch beurteilen, wenn man die moralische Perspektive, die aber pathologisch ist, nicht ablegen kann. Der "freie Geist" ist zu keiner einseitigen Beurteilung mehr verpflichtet. "Der Mensch (...) bleibt (...) innerlich einem ewigen Schwanken, von außen einer immer störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein für allemal den Entschluß faßt, zu erklären, das Rechte sei das, was ihm gemäß ist." (Goethe, Dichtung und Wahrheit)
In diesem Zusammenhang vermute ich, daß πόλεμος eigentlich Gewühl bedeutet, aus dem sich das Einzelne herauskristallisiert, und daß man Heraklit so verstehen muß. Es ist viel mehr das Handgemenge als der Kampf von Gegensätzen, die es ja gar nicht gibt. Es sollte mich wundern, wenn nicht πόλύ und πόλις mit πόλεμος verwandt wären. Πολιτικός und πολεμικός gehören ja wohl auch zusammen, zumal in demokratischer Zeit, da sich nichts mehr herauskristallisieren soll und kann...

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