„Das Idyll und die Tragödie sind Geschwister, die sich als
solche nicht verraten. In jedem Tragiker steckt ein Hang zum Idyll. Denn das
melancholisch getönte, in kleinen Kreisen sich bewegende Leben der Idylle, das
den Zufall leicht und passend wie ein unversehens gefundenes Band immer wieder
aufnimmt und in sein Spiel verflicht, kann doch nur bestehen im Schatten der
großen Macht. Daß ihr buntes Licht sich bricht an dem unerbittlichen Dunkel,
das sie umwölbt, macht den Zauber der Idylle aus. Sie ist der mildeste Ausdruck
des Tragischen; nur ein Reflex verrät ihre Herkunft, aber diesen Reflex darf
sie nicht vermissen lassen.“ (Reinhold Schneider, Philipp II., Berlin,
Darmstadt, Wien 1959, S. 184) Das „unerbittliche Dunkel, der Schatten der
großen Macht“ ist auch des „Wanderers und Zarathustras“ Schatten. Das
unausweichliche Verhängnis und die Moira lauern auch auf den schönen Wegen des
Lebens: das falsche Glück! (Vgl. meine „Abrechnungen eines alten Mannes“, nr.
214)
Goethes Gedicht „Worte sind“. – „Worte sind der Seele Bild –
Nicht ein Bild! Sie sind ein Schatten!“ Diese Feststellung Goethes läßt sich
wohl auch zur Deutung von Nietzsches „Der Wanderer und sein Schatten“
heranziehen. „Nun, wir sprechen! Rasch im Fliehn haschen wir des Lebens Gaben.“
Nietzsche war sich der grundsätzlichen Vorläufigkeit seiner Schriften stets
wohl bewußt.
Dann hat mich Irvin Ribners Shakespeare-Buch (Waltham,
Toronto, London 1969) auf eine andere Interpretationsmöglichkeit gebracht. Ribner
schreibt, daß fiktive Soldaten auf den Aushebungslisten des 16. Jahrhunderts
als „shadows“ geführt wurden. Der vorausgeworfene Schatten des Wanderers mögen
die erfundenen Neuen Freunde und Weggefährten Zarathustras sein, der virtuelle
Übermensch, den es noch einzulösen gilt. Der große Mittag, die Zeit des
kürzesten Schattens, ist der Wendepunkt in der Geschichte der Gattung Mensch. –
Der Schatten ist auch der Gesprächspartner des Wanderers in einer Art inneren
Monologs.
Im IV. Teil des
Zarathustra ist er gewissermaßen die „Negation“ Zarathustras, die Kehrseite:
„dünn, schwärzlich, hohl und überlebt“ sieht dieser „Nachfolger“ aus. Er ist
ein „müder Schmetterling“, der seine Heimat verlor, jenem Schmetterlinge Lenaus
gleich, der sich aufs offene Meer verirrt: „Du wagtest, eh der Tod dich grüßte,
vorflatternd dich ins Geistermeer; du gehst verloren in der Wüste, von wannen
keine Wiederkehr.“