Man wird beim Künstler Nietzsche und beim
letzten Schüler des Dionysos diese Position wiederfinden: der Tänzer und der
Reiter müssen Herr ihres Schwerpunktes bleiben, wenn anders sie nicht abstürzen
wollen wie die moderne, „wissenschaftliche“ Gesellschaft säkularisierter
Gottesnarren. Weiterhin – und das scheint Nietzsche nicht gesehen zu haben, und
mich lehrt es jetzt der Buddhismus – ist das das abendländische Gebahren das
aufgrund eines übertriebenen Individualismus in Verbindung mit dem Wahrheits-Wahn
bei weitem aggressivste Sozialverhalten: da ist der Einzelne konfrontiert mit
Gott und muß seine Seele vor ewiger Verdammnis retten durch die Suche nach
Wahrheit und ihrer Moral, die als seiner Wahrheit und ihrer Moral diametral
entgegengesetzt konzipiert worden sind von Systemfeinden des späten Altertums.
Er muß gewissermaßen seine persönlichen Bindungen zu den Menschen, sein
natürliches Wohlverhalten aufgeben, um sie wie Feinde gewissermaßen aus Pflicht
lieben zu können,- wobei es gewöhnlich beim absurden Wortgeklingel und
Buberschen und Frommschen Klimmzügen bleibt, bleiben muß. Ob Schiller so etwas
geahnt hat bei seiner berühmten Kantkritik in dem Gedicht „Die Philosophen“?
Die Ehrfurcht vor den Eltern, dem Alter, die schützende Liebe zu den Kindern
ist dem rohesten Egoismus gewichen, dem das ungehemmte Ausleben der Perversion
als Selbstverwirklichung in Meinungsfreiheit gilt. Die häßlichste Gier ist da
und das Verhängnis immer offener, seit Platon die Wahrheit für „schön“ erklärt
und das heldische Ethos auf die Offenlegung der Wahrheit gewendet hat, die
zuvor durch eben dieses Ethos vermieden und überwunden wurde als der penetrante
böse Blick. Thersites hat mit seinen Anwürfen ja recht; aber er wird von
Odysseus einfach niedergeschlagen. „Die Menschen“, das sind die Leute,
die man einfach in ihrer Gemeinheit abstoßend finden muß, wenn man nicht selbst
dazugehört; man vermutet bei ihnen immer einen Menschen; es sind aber keine, es
sind nur Leute. Ein wirklicher Mensch ist fast schon ein Übermensch,
wenn er von den verderblichen Schlacken einer gemeinen Gesellschaft gereinigt
ist. Goethe berichtet in „Dichtung und Wahrheit“ von lauter vortrefflichen
Männern und Frauen, die er allerorten getroffen hat. Gab es denn vor
zweihundert Jahren so viele treffliche Menschen – oder hat er sich und uns
etwas vorgemacht? Könnte ich doch einen einzigen von ihnen einmal eine halbe
Stunde sprechen! Lavatern möchte ich allzu gerne kennengelernt haben, der ja
eine außerordentliche Erscheinung gewesen sein muß, allein schon, um zu
verstehen, daß er für Lenz keine Hilfe sein konnte. Was war mit Lenz? Trachtete
er wirklich, einem ihm wohlgesinnten Goethe zu schaden? Warum wurde er von
Büchner bemüht? Um Lavatern und Goethe in ein schlechtes Licht zu rücken? Und
Goethe selbst? Sucht er auf eine unheimliche Weise allen gerecht zu werden, ein
Olympier des Urteilsvermögens?